islandrabe

Tagwerk in den Feldern der Kunst und Kulturwissenschaft

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Dörfliche Nachbarschaft

Über den Zusammenhang von Fortschritt und Zwischenmenschlichem; eine Spurensuche in kleineren Tiroler Gemeinschaften mit Randlage

Dörfliche Nachbarschaft, islandrabe 2013


Ausgangspunkt

Für die Inspiration, „dörfliche Nachbarschaften“ zu erkunden, sorgte ein Wiener Beamter namens Joseph Kyselak. Im Jahr 1825 erkundete er auf seiner Fußreise durch Österreich und war gerade in Tirol tief beeindruckt von der Menschlichkeit der Menschen an den Rändern der Zivilisation. Aktuell ist die Peripherie das Terrain von Regionalentwicklern und Erholungssuchenden, doch was lässt sich heute über die Qualitäten der kleinen abgelegenen Gemeinschaften am Lande sagen?
Was zeichnet das Leben miteinander in dörflichen Strukturen aus? Was hat der Fortschritt in den letzten rund 100 Jahren verändert? Diesen und anderen Fragen widmet sich das zwischen Ethnographie und Kunst angelegte Forschungsprojekt "dörfliche Nachbarschaft".


Form und Funktion

Die Erkenntnisse der Erkundungen in und über die Dörfer finden sich auf fünf Grafiken und in einer begleitenden Broschüre ausgearbeitet (Bild 1). Eine Grafik zeigt dörferübergreifende, allgemeine Themen (Bild 5, unten), die vier restlichen widmen sich jeweils einem der Orte des Projektes. Alle fünf präsentieren knapp und reduziert die Themen der Nachbarschaften, mit der Absicht einen Überblick zu ermöglichen. Für die Vertiefung kommt die Broschüre ins Spiel. Verweise in den Grafiken führen zu Passagen aus Gesprächen, Zeitungsartikeln usw., die Hintergründe liefern (Bild 2). Zudem führen die Verweise auch zu den Quellen.
Die Form der Ergebnisse umgeht die lineare Erzählung. Die Themen wurden zwar bewusst ausgewählt, ergeben aber durch das Nebeneinander keine vorgefertigte Argumentationslinie. Die Verbindungen der Inhalte und damit die Gedankengänge ergeben sich mit dem Betrachten. Auch ermöglicht dieses Nebeneinander der Aspekte den Vergleich; manches überschneidet sich, anderes vermisst man. Im Idealfall entsteht so ein Gefühl für historische und gegenwärtige "dörfliche Nachbarschaft" und nicht eine Überzeugung "So war oder ist es!". Und noch etwas ermöglicht diese Form der Publikation: Ein gemeinsames Betrachten und Erschließen der Themen, zum Beispiel am Wirtshaus- oder Stubentisch, da nicht jeder für sich liest, sondern man gemeinsam schauen kann.

Ausstellung für den Wirtshaustisch, Dörfliche NachbarschaftBild 1

Ausstellung für den Wirtshaustisch Detail, Dörfliche NachbarschaftBild 2


Ausführung

Aus den Reisenotizen Joseph Kyselaks ergab sich die Auswahl der vier Orte der besuchten dörflichen Nachbarschaften: Gries im Sulztal (G), Lanersbach in Tux (L), Ranalt im Stubaital (R) und das O-Dorf in Innsbruck (O), in Bild 3 auf einer Karte mit Flüssen und Grenzen Tirols verortet.
Zur Vorbereitung wurden alltägliche Nachrichten von rund 1800 bis in die Gegenwart gesammelt und nach Themen ausgewertet, in denen Nachbarschaft stecken könnte. Mit dieser Gesprächsgrundlage wurden die Orte besucht und mit Personen vor Ort das Gespräch gefunden. Nach einer Auswertung der Gespräche und einer ersten Aufteilung in relevante Aspekte der Nachbarschaft kam es zu einer zweiten Runde an Gesprächen vor Ort, um das Bisherige zu ergänzen, zu vertiefen oder auch zu korrigieren. Im Anschluss daran kam es dann zur Ausarbeitung der Ergebnisse in der oben beschriebenen Form (eine Chronologie des "Genauer-Hinschauens" zeigt Bild 4).

Landkarte der Orte des ProjektesBild 3

Skizze des ForschungsprozessesBild 4


Vermittlung

Texte, Berichte, Artikel, ... über das Projekt:


Beteiligte

Alexandra Bröckl, geboren 1985 in Innsbruck, lebt in Wien, Studium der Europäische Ethnologie (Universität Innsbruck) und arbeitet derzeit als Assistentin der Geschäftsführung bei der Akademie des Österreichischen Films. (Recherche und Interviews; O-Dorf)

Albert Frisch, geboren 1984 in Kufstein, lebt in Innsbruck, Studium der Physik (Universität Innsbruck) und arbeitet aktuell als Doktoratsstudent am Institut für Experimentalphysik. (Audio- und Fotodokumentation; Lanersbach, O-Dorf, Ranalt)

Richard Schwarz [Projektleitung], geboren 1984 in Wörgl, lebt in Wien, Studium der Europäische Ethnologie (Universität Innsbruck) und Art & Science (Universität für Angewandte Kunst Wien) und ist derzeit tätig als Medienkünstler und freischaffender Kulturanthropologe. (Organisation, Recherche, Interviews, Redaktion, Gestaltung; Gries, Lanersbach, O-Dorf, Ranalt)

Helena Wimmer, geboren 1981 in Kirchdorf, lebt in Wien, MultiMediaArt-Studium an der FH Salzburg und ist derzeit tätig als Artdirektorin und Fotografin, www.studiodeluxe.at. (Grafikdesign)


Betrachtungen

Wirtschaft, als etwas, wo man sich trifft
Denken wir an Wirtschaft als ein Variante der Beziehungen zwischen Menschen. Ich gebe dir und du gibst mir und danach haben wir beide mehr. Aktuell hat Wirtschaft dieses Potential in weiten Bereichen verloren. Selber machen, mit der eigenen finanziellen Kraft, steht im Vordergrund und damit befindet sich der Einzelne in einer Art Scheinunabhängigkeit, einer entfremdete Abhängigkeit. Ein direktes Beispiel sind der Verlust der Kleinkraftwerke an jedem Ort; der Strom wird nun extern produziert - womöglich mit dem eigenem Wasser. Ein indirektes Beispiel ist das Abhandenkommen der Arbeiten im Dorf. Was für's Leben gebraucht wird, verdienen sich die Leute außerhalb (Pendler) oder mit Außen (Tourismus). Die Abhängigkeiten, im Sinne des Aufeinander-Angewiesen-Seins, innerhalb des Dorfes wurden mit Abhängigkeiten außerhalb des Dorfes eingetauscht; und Geld dient dabei als Austauschmittel - Geld als verdinglichte Schuld von ... ja von wem? Die gegenseitigen sozialen 'Schulden' nahmen ab, die finanziellen zu. Wenn von Fortschritt die Rede ist, stellt sich hier die Frage, wieviel wir weitergekommen sind, wenn wir soziales/immaterielles Kapital gegen materielles Kapital (Geld) ausgetauscht haben?

Was am Ende bleibt
Neue Nachbarschaften zeichnen sich ab; und sie könnten nachbarschaftlicher als die bisherigen werden. Viele sind auf sich selbst zurückgeworfen und suchen als Einzelne Anschluss an Andere. Dafür könnte womöglich Nachbarschaft, wie sie sich in früheren Formen zu erkennen gibt, wiederentdecken werden, wenn es darum geht, sein Umfeld selbstbestimmt zu gestalten und Abhängigkeiten wieder lokaler zu denken - ohne damit aber alte Zustande herauf zu beschwören. Speziell im Falle der Tiroler Dörfer drängt sind dabei ein weiterer Aspekt auf. In vielen Dörfern sind sich Einheimischer und Gast oft die nächsten Nachbarn. Würde nun dieses Verhältnis auch als Nachbarschaft gesehen, könnten ein gemeinsames Interesse am Ort enststehen. Allerdings müsste dafür wohl der Pfad der Nächtigungszahlenmaximierung verlassen werden; und betrachtet man den finanzielle Gewinn, der stagniert, und den sozialen Verlust, sollte auch das eine Überlegung wert sein.

Das allgemeine Plakat zur Dörflichen NachbarschaftBild 5


Unterstützung

Die Ausführung des Projektes wurde ermöglicht durch die Unterstützung von TKIopen13, Abteilung Kultur des Landes Tirols und BMUKK.

Logo TKIopen13, Land Tirol, BMUKK